Die Orgel der Hl. Dreifaltigkeitskathedrale ist in vielerlei Hinsicht eines
der interessantesten Denkmäler des Orgelbaus auf der Welt – ihre Größe,
Entstehungsgeschichte, optische und klangliche Schönheit begeistert Organisten,
Orgelbaumeister und Zuhörer schon seit Jahrhunderten. Über die Kirche selbst
schreibt Imants Lancmanis in seinem Buch „Liepaja von Barock bis Klassik“
(Riga: Zinatne, 1983): „Liepaja ... wollte die Hauptstadt des Herzogtums
übertreffen, indem es der deutschen Gemeinde eine eigene, noch stolzere Kirche
errichtete - vor allem deshalb, weil in der Hl. Dreifaltigkeitskirche Jelgava
wie auch in der Stadt die Gutsherren alles bestimmten und die Bürger schweigen
und gehorchen mussten. In Liepaja war es anders, hier wussten die reichen
Hauseigentümer um die Macht zu kämpfen und, als sie sie gewonnen hatten, in
ihren Händen zu behalten. Nicht aus übergroßer Gottesfurcht, sondern weil sie
sich präsentieren wollten, die Bedeutung der Stadt im feudalen Kurzeme
bezeugen, schuf Liepaja diese Bürgerkathedrale, einen pompösen Paradebau, so
seltsam fremd und unpassend vor dem Hintergrund hölzerner Lagerhäuser und dem
besonnenen Leben der Bürger.“
Zusammen mit der Kirche war auch die Orgel mit 36 Registern fertig, die der
von Kurzemes Herzog bevorzugte Orgelbauer Johann Heinrich Joachim
(1696-1762) erbaut hatte. Leider war die Gemeinde mit der Orgel unzufrieden,
denn der Orgelbauer war schon alt und taub und deshalb war die Orgel nicht gut
gelungen. Darum wurde 1773 Heinrich Andreas Contius (1708-1786), einer
der hervorragendsten Orgelbauer seiner Zeit , nach Liepaja geladen, nachdem er
mit großem Erfolg die Orgel in Rigas St. Jakobskirche errichtet hatte. Über ihn
ist bekannt, dass Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) selbst ihn 1748 Johann
Gottlieb Graun (1703 – 1771) für den Bau einer neuen Orgel in Halle als besten
Kandidaten empfohlen hat, und ihn mehr geschätzt hat als Zacharias Hildebrandt
(1688 – 1757), den Star des Orgelbaus seiner Zeit. Wahrscheinlich war es der
gute Ruf des Meisters, der die Besteller geduldig warten und oft mehrere Jahre
überschrittene Fristen ertragen ließ. Zusammen mit dem Neubau der Orgel in
Liepaja, baute er auch die Orgel im Rigaer Dom, weswegen die Liepajas Einwohner
ganze sechs Jahre auf ihre warten mussten. Von der alten Orgel Joachims
verwendete Contius das Prospekt und den Korpus; wie A. Melbāržs’ Inventur der
Pfeifen zeigt, hat er von Joachims Orgel auch viele Pfeifen an der Innenseite
erhalten. Contius’ Orgel wurde 1779 vollendet, sie hatte nun 38 Register und
Liepajas Einwohner waren endlich zufrieden mit ihrer Orgel. Von ihr begeistert
war Abt Georg Joseph Vogler (1749 – 1814), der am 9.Juli 1788 in Liepaja
konzertierte.
Dennoch muss man sagen, dass wir in Lettland wohl kaum eine andere Kirche
finden, auf die der Spruch „Ein echtes Kunstwerk ist nie vollendet” besser
zuträfe. 1844 führte der Orgelbauer Carl Paul Otto Hermann (1807 – 1868) aus
Liepaja, Organist an der St. Annen-Kirche, die erste Erweiterung durch. Damit
begann eine ununterbrochene Erweiterung der Orgel und in den Jahren bis 1877,
in denen Carl Alexander Hermann (1848 – 1926) die Arbeit seines Vaters
fortsetzte, war die Orgel mit ihren 79 Registern und 4 Manualen genau doppelt
so groß wie Contius’ Instrument und wahrscheinlich die größte Orgel nicht nur
in Kurzeme, sondern in allen baltischen Gubernaten des damaligen Russischen
Reiches.
Es scheint, dass man die Orgel nun für vollendet erklären konnte, aber
nicht so die Einwohner Liepajas und Kantor Adolph Wendt (1819– 1886)! 1882
stellte der Rigaer Rat eine ernste Herausforderung: Er gab W.F. Walkers Firma
in Ludwigsburg den Auftrag für den Rigaer Dom die größte und modernste Orgel
der Welt zu bauen. Die Firma tat dies auch, doch die großartige Domorgel hielt
diesen Status nur ein Jahr lang, denn im Dezember 1885 beendete Karl Barnim
Theodor Grüneberg (1828 – 1907) die regelmäßige Erweiterung der Orgel in
Liepaja, wodurch die Orgel nun 131 eigenständige Stimmen hatte (der Rigaer Dom
nur 119) und damit zur größten Orgel der Welt wurde, was eine Porzellanplakette
über dem vierten Manual sehr prahlerisch (und wahr!) bestätigt. Von der noch
nicht genügend gewürdigten wahren Intelligenz des Stettiner Orgelbauers zeugt
seine außerordentliche Pietät vor dem Werk seiner Vorgänger: ähnlich wie an
vielen anderen Orten Europas, wo er Orgeln erweitert hat, erhielt er auch in
Liepaja alles, was seine Vorgänger angefertigt hatten, praktisch unverändert.
Er baute ein komplett neues Hauptmanual mit 42 Registern und die Barkermaschine
an, und fügte dem Pedal 10 weitere Register hinzu. Dabei versuchte er, sich dem
handwerklichen Stil der alten Teile anzunähern, sodass man den Unterschied auf
den ersten Blick nicht bemerken kann! Auch die Erweiterungen des Prospektes im
Seitenschiff, die sich großartig in den Gesamtstil einfügen, sind auf einem so
hohen künstlerischen Niveau, dass ein Unwissener denken mag, dass die Orgel
schon seit der Einweihung des Gotteshauses 1758 so ausgesehen hat. Die
erweiterte Ogel wurde am 13. Dezember 1885 eingeweiht.
Der Orgel von Joachim, Contius, Vater und Sohn Hermann und Grüneberg war es
ein wenig länger vergönnt, den Ruhm der größten Orgel der Welt zu halten: bis
1912, als man in Hamburgs Michaelskirche ein noch größeres Monster errichtete.
Aber das war schon das 20. Jahrhundert, als überall Elektrizität Einzug
erhielt. Die Ventile dieser Riesenorgel öffnen unter den Pfeifen Elektromagnete
und die Finger des Organisten verbinden nur die Kontakte. In Liepaja hingegen
sorgt ein kompliziertes mechanisches Übertragungssystem für die Öffnung der
Ventile, das auf jede Tastenberührung des Organisten reagiert. Deshalb wird es
wohl kaum jemandem gelingen, dem Instrument den Ruhm der größten mechanischen
Orgel der Welt wegzunehmen. Wenn man die Tätigkeit des Organisten an der Orgel
betrachtet, wird sogar einem Unwissenden klar, dass dies schwere körperliche
Arbeit ist – wie auch nicht, wenn bei voller Orgel mit einer Pedaltaste 32
Ventile geöffnet werden müssen!
Aber es ist nicht nur die Größe, weswegen diese Orgel in die Reihe der
bedeutendsten Denkmäler ganz Eiropas und sogar der Welt einzuordnen ist:
1) Hier ist der einzige Ort auf der Welt, wo noch immer die von J.S. Bach
so hoch geschätzten Register von Contius erklingen und die von ihm angefertigte
Mechanik und Windladen arbeiten.
2) Interessant ist, dass die Mechanik der Orgel im Grunde nicht einmal
umgebaut worden ist, nur erweitert, indem man neue Elemente integrierte.
Ungeachtet der langen Bauzeit – ganze 127 Jahre, ist am Ende eine sehr gut
strukturierte Orgel entstanden, wo alle Pfeifen einen guten Zugang haben, die
Mechanik bewundernswert sicher und präzise arbeitet - den langen mechanischen
Antrieben zum Trotz (bis zu den entferntesten Pfeifen erreichen die
mechanischen Antriebe eine Länge von 13 Metern), die Regulierung und Wartung
der Mechanik ist einfach.
3) Bewundernswert ist das Luftzufuhrsystem: Zusammen hat die Orgel 10
riesige Bälge und außerdem eine Luftpumpmaschine mit 8 Bälgen im Turmraum. Der
Luftbedarf beträgt etwa 120 m³ pro Minute. Und wenn die Elektrizitätsversorgung
abreißt, ist es immer noch möglich, mit Hilfe von zwei Tretern auf den 1877
vollendeten Orgelteilen mit 79 Registern zu spielen.
4) Jedoch für die größte Überraschung und Begeisterung sorgt immer noch der
Klang. In der Intonation jedes einzelnen Registers kann man die persönliche
Handschrift der Meister wahrnehmen. Obwohl an der Orgel Meister mehrerer
Generationen gearbeitet haben, ist ihr Klang bewundernswert einheitlich. Die
älteren Register von Contius klingen sehr gut zusammen mit den neueren
Grünebergs; die unnachahmlichen Flöten- und durchdringenden Zungenregister der
Hermanns schaffen den besonderen Klang, der mit keinem anderen Instrument zu
verwechseln ist. Der Reichtum der verschiedenen Register und ihrer
Kombinationen ist unerschöpflich.
Das Restaurationsprogramm der Orgel sieht vor, dieses Instrument in seinem
Zustand von 1885 zu restaurieren, tas heißt, dass einige unwichtige Umbauten
neuerer Zeit demontiert werden müssen. Nach Beendung der Arbeiten werden einige
noch etwas heisere Register in ihrer ganzen Pracht aufleben und zu Liepajas
Internationalem Festival der Orgelmusik kommen vielleicht internationale
Wettbewerbe für Organisten, denn diese Orgel ist wahrlich eine Herausforderung
für jeden Musiker!
SOLI DEO
GLORIA
Jānis
Kalniņš, Orgelbauer und Restaurateur
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